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Literaturtage / Erhard Eppler bot Briefe und komplettes Stückwerk

Zeitsprünge zu Wendepunkten

Haller und deutsche Geschichte in einer Person ver-schmolzen - Politrentner mit einflussreichen Büchern

Im Gespräch mit seinem Nachbarn auf dem Haller Friedensberg Reinhard Sorg sowie mit Lesungen aus seinen Briefen an Enkelin Lisa und aus seiner politischen Autobiographie "Komplettes Stückwerk" nahm der Haller Politiker und Autor Erhard Eppler die Zuhörer mit auf Zeitsprünge zu Wendepunkten in seinem Leben

Ernst-Walter Hug

Hall. "Nur wer ein Warum zu erleben hat, erträgt auch fast jedes Wie." Dieser Aphorismus stammt von Friedrich Nietzsche und ist bestimmt kein Satz für einen Politiker wie Erhard Eppler. Dennoch musste er insbesondere in seiner Jugend viele 'Wies' ertragen, wurde im Gespräch mit seinem Nachbarn Reinhard Sorg zu Beginn der Lesung deutlich. Das Wie des nationalsozialistischen Alltags rieb sich auch ohne die Frage nach dem Warum immer wieder an natürlich jugendlicher Opposition.. Zu mehr als kleinen oder größeren Frechheiten reichte es aber nicht, "denn die NS-Propaganda hat ja gewirkt, weil wir gar nichts anderes kannten, an dem unser jugendlicher Geist sich hätte orientieren können. Deshalb war die Kritik von uns zumeist eher harmlos und auch wirkungslos."

Vielleicht hat Erhard Eppler dies fast 20 Jahre später auch gedacht, als Herbert Wehner während eines Kongresses in Epplers Wahlkreis Freudenstadt ihn trotz moderat geäußerter Kritik auflaufen ließ und Eppler als gerade frisch gewählten Bundestagsabgeordneten auf den Boden politischer Realität zurückholte. Auch das einer jener Wendepunkte, zu denen Eppler seine Zuhörer mitnahm: zu privaten, kleinen, wie jenen, als er einst im Kocher das Schwimmen gelernt hatte, zur Schramme an einer Linde auf dem Galgenberg, die von einem Zusammenstoß mit dem jungen Erhard und seinem Fahrrad stammt, zu (für ihn) gesellschaftlichen Wendepunkten, wie der Erinnerung an seinen Deutsch- und Lateinlehrer, den späteren Minister Gerhard Storz, wie der einstens bei einem SS-Vortrag im Neubau aufstand und empört die Tür knallen ließ, zur eigenen Flucht vor der SS als 16-Jähriger, die ihn nach einem Sprung aus dem Fenster direkt als freiwilligen Offiziersanwärter zur Wehrmacht trieb, zu jenen Wochen, die Nietsches Satz vom Warum und Wie am nächsten kamen, dem Reichsarbeitsdienst, bei dem es nicht um Ausbildung ging, sondern um bloße Demütigung, und schließlich zum genauen Gegenteil, dem Erleben demokratischen Denkens, als er 1947 bis 49 mit einem Stipendium im schweizerischen Bern studieren durfte.
Der dritte Teil seiner Wendepunkte, zu denen Eppler die Zuhörer mitnahm, betraf seine politische Karriere: seine Entscheidung für Politik als Beruf, seine Zeit als Minister, als er die Dritte-Welt-Problematik vor Augen sein ökologisches Bewusstsein entwickelte, und zu einem der wohl heftigsten Wendepunkte, zu einer EG-Tagung 1974 in Luxemburg, als Bundeskanzler Helmut Schmidt mit seinem 'Nein' eine 1,5 Milliarden-Beteiligung der Ölländer an einem Dritte-Welt-Fonds platzen ließ, indem Deutschland als einziges und damals reichstes EG-Land sich verweigerte - was wenig später zu Epplers Rücktritt vom Ministeramt führte.
Er, so Eppler heute, hätte es durchaus begrüßt, wenn man seine Bücher nicht nur nach ihrem politischen Inhalt rezensiert hätte. Doch zwischen Politik und Literatur gebe es einen ebenso tiefen Graben wie zwischen Politik und Wissenschaft. Sie erkennen gegenseitig nicht, was wichtig ist. Und es sei erstaunlich, bemerkte er sinnierend, welcher Ohnmacht er als Mächtiger, als Minister ausgeliefert war, und welchen Einfluss, welche Macht er als Ohnmächtiger, nämlich als Politrentner mit seinen Büchern gehabt habe und vielleicht immer noch habe.

 

 

 

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