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Theatersaal im Alten Schlachthaus / Kleines Theater Hall lud Besigheimer Studiobühne zur Aufführung

Geschichte mit 'echten' Gespenstern

Oliver Storz' "Die barmherzigen Leut von Martinsried" ereignete sich gar nicht so weit von Hall

Im Stück ist es Martinsried. In echt war es 1945 Eckartshausen, Bahnstation bei Ilshofen. Die Reichsbahn hatte vier Waggond eines SS-Son-derzuges voller KZ-Häftlinge einfach auf dem Bahnhof abgekoppelt und stehen lassen. Die zu je 75 Leuten in den Güterwaggons eingepferchten Menschen verhungerten und verdursteten und ihr Schreien war ein Greuel für die Dorfbewohner. Doch keiner traute sich zu helfen. Nur die Wirtstochter Anna.

Ernst-Walter Hug

Schwäbisch Hall. 80-jährig sitzt die Wirtstochter Anna im Altersheim, wartet auf die Geburtstagsgratulanten. Auch der Bürgermeister habe sich angesagt, so die Pflegerin. Doch die Erwähnung des Wortes Bürgermeister lässt in Anna ganz andere Erinnerungen hochkommen, an einen Bürgermeister 1945, der nicht den Mut aufbrachte, den Menschen in den Waggons, den "volksschädlichen Elementen", wie der offiziuelle Sprachgebrauch war, helfen zu lassen.. Erinnerungen an ihre Eltern, einst treue NS-Partei-gänger, der Vater Bauernführer am Ort. Sie sieht sich selbst die Wirtsstube ausfegen, während nicht weit davon am Bahnhof die Menschen schreien...
Auftritt des Fahrdienstleiters der Reichsbahn Karl Schwendt, der erzählt, wie das damals war und dass man bis zu seinem Tod eigentlich nicht viel darüber geredet habe. Ein echtes Gespenst der Vergangenheit, so wie auch all die anderen (mit Ausnahme von Anna) Gespenster sind. Alle, ob die in den letzten Kriegstagen von einem Granatsplitter tödlich verletzte Jugendfreundin Sigrid oder der "Beutedeutsche" Hilfspfarrer Lettkowsky, sie alle sind Geister, die der 80-jährigen Anna erklären, wie das damals war, als sie zwar

heldenhaft 14 Stück Vieh aus des Nachbars zerbomtem Stall retteten, sich aber nicht trauten, den Menschen in den Viehwaggons auf dem Bahnhof zu helfen. Nein, sie tun's nicht verteidigend, nicht um Verzeihung heischend, nicht um Ausreden bemüht. Sie erzählen einfach die Geschichte aus ihrer Sicht, erklären ihre Stellung in der nach 12 Jahren Diktatur völlig vom Führerprinzip durchdrungenen Gesellschaft. Und selbst beim Ortsgruppenführer der Partei Kurt Vollmer flammen ab und zu einige Funken eigener Gedanken auf, etwa zu der Frage:"Was wäre wenn die Weltanschauungswelt alles nur Geschwätz ist"
Ein Satz, den man sich auch in unsrer heutigen "freien Welt" angesichts manches Krieges, mancher Auseinandersetzung fragen kann, fragen sollte. Denn wie antwortet das Geistwesen ihres Vaters der 80-jährigen Anna auf deren Frage nach Himmel, Hölle und jüngstem Gericht. "Da ist nichts, wir hören nur zu." Und das Gericht tagte bereits in jenen Tagen im April 1945. Das Urteil? "Das liegt in dem, wie's weiter geht bei Euch in der Welt", sagt die Vaterseele. Und Anna geht mit den ersten Gratulantenblumen zu ihrem 80. Geburtstag hinüber zum Bahnhof.

 

 

 

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